Ich bin heute über einen Blogartikel von Tom Nichols gestolpert, dem ich nur beipflichten kann. Er bringt auf den Punkt, was ich genau wie viele andere Kollegen zunehmend erlebe: Es geht um die Behauptung, in einer demokratischen Gesellschaft hätten alle Aussagen, egal von wem, das gleiche Gewicht. “Experten” hätten in Wirklichkeit nicht einen Wissensvorsprung, den man bescheiden nachzuvollziehen versuchen sollte. Wer eine gut belegte Position vertritt, weil gegenteilige Aussagen widerlegt sind, der sei in Wirklichkeit nur “autoritär” oder “biased” oder “voreingenommen”. Der eigentliche, kritisch-rationalistische Prozess, in dem wissenschaftlich engagierte Menschen versuchen, Aussagen durch Widerlegungsversuche zu prüfen, wird damit unterminiert. Wir sehen es in alltäglichen Situationen: Man erklärt aus fachlicher Sicht, warum etwas so und so ist und daraus die Empfehlung x abgeleitet werden muss – und dann sagt das Gegenüber: “Ja, das sehen Sie vielleicht so, aber ich glaube das nicht. Ich habe gute Erfahrungen mit Homöopathie / Ich fühle, es ist anders / Ich habe aber einmal erlebt wie / Aber meine Kinesiologin rät mir…” (Die ehrliche Fassung wäre: “Das ist mir aber zu anstrengend / Das habe ich nicht verstanden / Ich möchte mich aber nicht selbst erziehen müssen”). Die Aussagen sind beliebig ergänzbar.
Logische Wahrheit wird behandelt, als gäbe es sie nicht, als sei alles diskursiv und es gäbe keine wahren bzw. falschen Aussagen. (Dennoch ist es offenbar ganz wichtig, dass jeder seiner eigenen folgt und nicht der des qualifizierten Gegenübers.) Eine Wurzel davon ist der irrige Kult um das Stichwort “Wahrnehmung” – die durch Hegel, Merleau-Ponty, Edmund Husserl und andere verbreitete billige Auffassung, Wahrnehmungen könnten wahr sein, seien aber eben subjektiv verschieden, hat als idealistischer Sauerteig inzwischen die ganze Gesellschaft durchgoren. Man kann nur hoffen, dass die nächsten Jahrzehnte einen Umschwung zurück zur Rationalität bringen. Karl Popper rotiert sicherlich im Grabe angesichts der aktuellen geistigen Situation unserer Zeit.
Ich will Ihnen nicht vorenthalten, was Tim Nichols schreibt:
“Today, any assertion of expertise produces an explosion of anger from certain quarters of the American public, who immediately complain that such claims are nothing more than fallacious “appeals to authority,” sure signs of dreadful “elitism,” and an obvious effort to use credentials to stifle the dialogue required by a “real” democracy.
But democracy … denotes a system of government, not an actual state of equality. It means that we enjoy equal rights versus the government, and in relation to each other. Having equal rights does not mean having equal talents, equal abilities, or equal knowledge. It assuredly does not mean that “everyone’s opinion about anything is as good as anyone else’s.” And yet, this is now enshrined as the credo of a fair number of people despite being obvious nonsense.”
Jedermanns Meinung ist so gut wie jede andere. Kein Wunder, dass die Abschaffung von Leistungsbeurteilungen in Deutschland soviel Unterstützung findet. Dass damit auch die Wertschätzung für Leistung ein Ende haben wird, ist sicher auch nur meine irrelevante Meinung. Vielleicht finanziert ja Finnland oder ein anderer PISA-Sieger dann die vielen BMWs und Einfamilienhäuser, ohne die unsere 45% Abiturienten (oder 100% inklusiven Gesamtschulabsolventen) nicht standesgemäß werden leben können…