Eine brandneue Studie von Prof. Schulte-Körne und seinem Team an der LMU untersucht an über 1600 Dritt- und Viertklässlern aus dem Münchner Raum, wie häufig die Schüler von Rechenschwäche, Rechtschreib- und Leseproblemen betroffen sind. Man kommt zu dem Ergebnis, dass insgesamt bei 3-6% der Schüler mit einer solchen Schwäche gerechnet werden muss (was nichts Neues ist) und dass über die Hälfte der betroffenen Schüler nicht nur in einem, sondern in mehreren der drei Bereiche Probleme haben. Das letztere ist eine eher ungewöhnliche Aussage, da bislang meist betont wurde, wie isoliert Teilleistungsstörungen zu betrachten seien. Obwohl die Studie dadurch punkten kann, dass die drei genannten Bereiche getrennt voneinander untersucht wurden, lässt sie doch viele Fragen offen, wenn man sie im Detail betrachtet und nicht nur die Pressemitteilungen liest:
(Verweise beziehen sich auf Seiten im pdf der Studie: Moll K, Kunze S, Neuhoff N, Bruder J, Schulte-Ko ̈ rne G (2014) Specific Learning Disorder: Prevalence and Gender Differences. PLoS ONE 9(7): e103537. doi:10.1371/journal.pone.0103537)
Keine Berücksichtigung der Intelligenz, der Unterrichtsqualität und der Lernerziehung
- Die Autoren sind stolz darauf, entsprechend dem DSM-5 Standard nicht länger zu berücksichtigen, ob beim teilleistungsgestörten Kind auch ein relativ niedriger IQ vorliegt (vgl. S. 2). Der IQ der Kinder in der Studie wurde nicht untersucht; man ging offenbar davon aus, dass alle Kinder einen IQ >70 hätten, da sie Regelschulen besuchten. Wie hoch ihr IQ war, wurde nicht erfasst. Das ist aus meiner Sicht eine große Lücke dieser Studie. Schließlich weisen knapp 16% aller Kinder einen IQ <85 auf und gelten damit nach langjähriger Auffassung als mehr oder weniger stark lernbehindert. Zugleich besuchen aber von diesen lernbehinderten Kindern die allermeisten, nämlich etwa 75%, eine Regelschule – und zwar nicht erst seit dem neuen Inklusionstrend, sondern schon seit Jahrzehnten. Die Leistungsfähigkeit dieser Kinder im Rechnen, Lesen und Schreiben ist oftmals eingeschränkt, das sollte berücksichtigt werden.
Bislang durfte eine Teilleistungsstörung immer erst dann festgestellt werden, wenn das Kind z.B. für die Diagnose “Legasthenie” bei den schlechtesten 3% der Rechtschreiber im Vergleich zur Altersgruppe lag und wenn zugleich der IQ im Verhältnis dazu so hoch war, dass eine bessere Leistung ohne Probleme zu erwarten gewesen wäre. Einfach gesagt: Es musste sichergestellt sein, dass ein Kind gut im abstrakten logischen Denken war, denn das ist eine Voraussetzung für gutes Rechnen und Rechtschreiben.
Nun war schon die bisherige Lösung nicht großartig, da sie fehlende Übung, schlechten Unterricht, und mangelhafte häusliche (Lern-)Erziehung außer Acht ließ. Aber immerhin war sichergestellt, dass grundlegend differenziert wurde: Ein Kind mit einem IQ von 80 tut sich mit so abstrakten Dingen wie Rechtschreibung und Rechnen nun einmal schwerer als ein Kind mit einem IQ von 120. Entsprechend anders muss der Förderunterricht für diese beiden Kinder gestaltet werden, und entsprechend anders darf der Erzieher agieren. Vom begabteren Kind darf mehr und schnellere Verbesserung bei guter Unterstützung erwartet werden.
Das fällt nun in dieser Studie komplett weg, und daher ist nicht klar, ob die als rechen-, lese- oder rechtschreibschwach beurteilten Kinder hauptsächlich Opfer ihrer Lernumwelt sind, da sie grundsätzlich gut ausgestattet sind, um in Deutsch und Mathe voranzukommen – oder ob sie zusätzlich erschwerte Umstände haben, da sie sich von Natur aus schwer tun mit der hohen Abstraktionsebene, die Rechnen und Rechtschreiben erfordern. Schulte-Körne bietet als Psychiater wie zu erwarten eine dritte Lösung an, die dem Trend der Medikalisierung entspricht: Es müsse eine Ursache im Gehirn geben und die Kinder seien letztlich krank. Damit ist ihnen nun am wenigsten geholfen.
Aus meiner Sicht und Erfahrung gibt es primär zwei große Gruppen von Grundschülern mit Teilleistungsstörungen:
Einerseits Kinder, die sich intellektuell schwer tun und in der Schule und zu Hause zu wenig Automatisierung erwerben, so dass sie zu den schlechtesten Rechnern / Lesern / Schreibern gehören. Wenn man berücksichtigt, dass etwa 12 von 100 Kindern einen IQ zwischen 70 und 85 haben, also bei deutlich unterdurchschnittlicher Begabung nicht auf der Förderschule sind, dann wären das bei 25 Kindern pro Klasse bereits 3 Kinder in einer Schulklasse, die besonders auf gute Erklärungen, viele Wiederholungen und zuverlässige Automatisierung angewiesen sind.
Andererseits gibt es Kinder, die einen recht guten IQ aufweisen, aber durch häusliche Verwöhnung, Konfliktscheu von Eltern und Lehrern, mangelnde Ausdauer und Frustrationstoleranz und unzureichende Automatisierung in Deutsch und Mathe fundamentale Probleme bekommen. Sie interessieren sich in anderen Fächern durchaus für Themen, die sie ansprechen, aber da sie mangels Pflichtbewusstsein und von außen sichergestellter Pflichterfüllung langweilige Dinge wie Übung und Sorgfalt stark schleifen lassen, entstehen schlechte Leistungen. Einen Sonderfall stellen besonders gut begabte Kinder dar, die nicht nach dem Prinzip “Pflicht vor Kür” erzogen wurden und sich daran gewöhnt haben, nur Neues interessant zu finden und Übung besonders zu verabscheuen.
Beiden Gruppen kann ein entscheidender Nachteil durch schlechten Unterricht und ausbleibende Fehleranalyse entstehen, der dann endgültig ihre Leistungen stark verschlechtert.
Auf alle diese Punkte könnte man im Unterricht und im Elternhaus eingehen und darauf basierende Hypothesen überprüfen.
Keine Fehleranalyse und keine Unterrichtsverbesserung
2) Das bringt mich zu Frage 2: Gerd Schulte-Körne hat sich als Autor des Marburger Rechtschreibtrainings immerhin mehr mit dem sprachwissenschaftlichen Aspekt von Legasthenie auseinandergesetzt als andere Mediziner. Ihm sind grundlegende didaktische Fragen nicht fremd. Aber es ist doch noch eine große Lücke zur Erfahrung, selbst lange und intensiv Deutsch unterrichtet zu haben. Entsprechend fehlt leider auch in dieser Studie die Untersuchung des Unterrichts und der Lernerziehung der betroffenen Kinder. Dabei wäre doch die Klassifikation von Kindern als “rechenschwach” oder “lese-rechtschreib-schwach” nur ein erster Schritt. Wenn diese Kinder gefunden wurden, müsste der nächste, wesentliche Schritt eine Erforschung ihres Unterrichts und ihrer häuslichen Lernumgebung sein, wenn man wirklich verstehen will, warum sie scheitern. Die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben konnte in ihrem letzten Sammelband (Frühjahr 2014) ausführlich zeigen, dass gerade solche Untersuchungen viel zu selten sind. Welche Erklärungen haben anderen Kindern gerade noch genügt, waren aber zu unklar für diese Schüler? Hat ein Mangel an Übung und eine Auswahl unguter Arbeitstechniken zu ihren Problemen beigetragen? Gibt es Gemeinsamkeiten in den erzieherischen Auffassungen und “Baustellen” ihrer Eltern – jenseits der Frage, ob die Eltern selbst Schwierigkeiten mit Deutsch oder Mathematik haben?
Immerhin regen diese Autoren einige sprachbezogene weitere Forschung an sowie auch die qualitative Berücksichtigung von Begabungsprofilen (vgl. S. 7).
Ausschließlich quantitative Verwendung von Testverfahren statt Förderdiagnostik
3) Ebenfalls problematisch ist die Auswahl der verwendeten Testverfahren. Es ist zwar löblich, dass die Autoren nicht einfach nach der Einschätzung von Lehrern und Eltern sortiet haben, sondern das Vorliegen schlechter Leistungen im Rechnen, Lesen und Schreiben selbst mit Testverfahren überprüft haben. Allerdings wäre es eine sehr wertvolle Information gewesen, zugleich die Lehrkräfte und Eltern zu bitten, die Schüler entsprechend einzuschätzen. Das hätte sich mit wenig Aufwand nebenbei machen lassen und hätte sehr erhellt, wie gut oder schlecht die Lehrkräfte ihre Schüler und die Eltern ihre Kinder wirklich einschätzen können. Schließlich sind es in aller Regel die Lehrkräfte oder Eltern, nicht der Kinderarzt oder Psychiater, die als erste eine Teilleistungsstörung vermuten.
Die Leseflüssigkeit anhand von einfachen Textverständnisaufgaben zu testen (vgl. S. 4), ist sicher ganz in Ordnung und vor allem ökonomisch; eine Lautleseprobe wäre für den Einzelnen weitaus aufschlussreicher, aber auch etwas aufwändiger gewesen.
Die Rechenfertigkeiten wurden mit Hilfe des HRT (Heidelberger Rechentest) überprüft. Hier mussten in zwei Minuten möglichst viele von 40 schriftlichen Rechnungen steigender Schwierigkeit richtig gelöst werden. Eine qualitative Fehleranalyse fand nicht statt. Hieran kann man nun einiges aussetzen:
Erstens wäre es sinnvoll gewesen, Fehleranalysen durchzuführen, also zu untersuchen, welche Fehler welchem Kind unterlaufen. Schließlich gibt es viele Wege, falsch zu rechnen, und der Weg, den ein Kind wählt, sagt viel über seine Missverständnisse und Lücken aus. Wenn man das Kind laut rechnen ließe, könnte man sogar unterscheiden, ob überhaupt mangelndes Verständnis die Ursache für die schlechten Leistungen ist (das wäre meine o.g. Gruppe von Kindern mit großen Verständnisproblemen), oder ob nur mangelnde Automatisierung dazu führt, dass das Kind schlicht zu langsam ist und daher wenige richtige Lösungen in der vorgegebenen Zeit schafft. (Das wäre die von mir genannte, primär erziehungsbedigt rechenschwache Gruppe.) Schade, dass die Gelegenheit hierfür nicht genutzt wurde. Das Feedback für die einzelnen Lehrkräfte wäre äußerst wertvoll gewesen: Müssen sie ihre Erarbeitungsphasen im Unterricht verbessern? Haben sie mehrere Schüler, die besonders gute Erklärungen benötigen und unter verwirrendem Lernmaterial stark leiden? Oder müssen sie mehr wert auf Routine legen, täglich längere Übungsphasen einlegen, in denen mehr richtige Rechnungen pro Zeit das Hauptziel sind?
Zweitens gibt es im Rechnen (im Gegensatz zum Rechtschreiben) keinen Test, der mit Sicherheit alle rechenschwachen Kinder erfasst. Vor allen Dingen gibt es kein standardisiertes Verfahren, das die Irrtümer der Kinder erfasst; man misst bestenfalls die Anzahl der richtig gelösten Aufgaben pro Zeit. Dabei können rechenschwache, aber ausgefuchste oder unter starkem seelischen Druck stehende Kinder durchaus als nicht rechenschwach durchgehen, wenn sie ihre unguten Kompensationsstrategien wie z.B. das Abzählen mit den Fingern sehr schnell beherrschen. Seitens der Dyskalkulietherapeuten wurde hierauf schon vor fast 10 Jahren hingewiesen und erklärt, dass sich der HRT deshalb nur eingeschränkt zur Diagnostik von Rechenschwäche eignet. Es kann also sein, dass die Ergebnisse der Studie verfälscht sind, da sie die kompensierenden rechenschwachen Kinder nicht erfasst. Das ist nicht belanglos, da Ausweichstrategien, die noch in der 3. Klasse funktionieren, zu einer Verschleppung des Problems führen und in der Sekundarstufe dann zu wirklich großen Schwierigkeiten führen.
Dass die Autoren für den Bereich Rechtschreibung den DRT (Diagnostischer Rechtschreib-Test) wählten, ist zunächst sehr positiv. Der DRT ist meines Erachtens der Test der Wahl beim Erfassen von Rechtschreibproblemen – und zwar deshalb, weil er so eine differenzierte Fehleranalyse bietet. Die wurde aber ebenfalls nicht vorgenommen, obwohl die Daten ja vorliegen, sobald man den ausgefüllten Testbogen vor sich hat. Man müsste nur anstatt bloß Fehler zu zählen die Fehler noch in Kategorien ordnen. Das wäre enorm aufschlussreich, da man fragen könnte: In welcher Beziehung stehen die größten Fehlergruppen zum Unterricht? Wurden Rechtschreib-Themen, bei denen die Schüler viele Fehler machen, im Unterricht vernachlässigt? Hatte die Lehrkraft richtig einschätzen können, wo die inhaltlichen Schwachpunkte ihrer Schüler liegen und welche Bereiche sie gezielt im Unterricht intensivieren sollte? Korrelieren Fehler, die hauptsächlich auf mangelnde Automatisierung und wenig Lesen zurückzuführen sind (Fehler in häufigen Morphemgruppen, Fehler in Vorsilben…) mit einer Einstellung von Eltern und Lehrern, die wenig Bereitschaft zum konsequenten Üben signalisiert? Korreliert eine große Menge von Fehlern bei schwerer zu verstehenden Regeln (Großschreibung von Abstrakta, Ableitung vom Wortstamm, tz und ck) mit einem niedrigeren IQ?
Mir ist bewusst, dass jede Studie im ihrem Umfang begrenzt ist und dass nicht alle Fragen beantwortet werden können. Aber ich ärgere mich immer, wenn Kinderpsychiater wie z.B. beim DRT alle Antworten vor sich liegen haben und die Fehleranalyse ignorieren, da nur von Interesse ist, wie viele Fehler gemacht wurden und nicht, was das Kind nicht verstanden hat. Da wäre es doch zumindest als kleines Dankeschön an die teilnehmenden Lehrkräfte das nützlichste Geschenk gewesen, ihnen eine Fehleranalyse für ihre Klasse zu liefern und damit den teilnehmenden Schülern eine Chance auf gezielte Förderung zu bieten. Schade!