Nach meinem Vortrag zum Thema “Mut zur Urteilsfähigkeit – Idealismus vs. Rationalismus in der Sonderpädagogik” an der Humboldt Universität Berlin habe ich von den Studierenden viele Rückmeldungen erhalten, die ein verstörendes Licht auf den momentanen Zustand der Sonderpädagogik werfen. Gerade Studierende in den ersten Semestern hatten den Eindruck, in der Sonderpädagogik ginge es nur um Inklusion. Vorhandenes Fachwissen außerhalb dieses Themas würde z.T. selbst in Veranstaltungen, die das erwarten ließen, nicht vermittelt oder ausschließlich unter Inklusions-Prämissen dargestellt. Das sehe ich mit großem Bedauern – schließlich verdanke ich mein Fachwissen einem sonderpädagogischen Studium, das ohne ein solch eklatantes Maß an ideologischen Scheuklappen auskam und daher eine enorme Breite an Kompetenzen und auch Standpunkten vermitteln konnte. Von ganz verschieden positionierten Dozenten wie Erwin Breitenbach, Peter Heinrich, Walter Straßmeier, Manfred Thalhammer, Andreas Möckel und der nicht-verschulten, prä-Bologna Studiengestaltung, die Seminararbeiten nach frei gewählten Themen zuließ, konnte man “zu meiner Zeit” (eine vergangene Ära?) enorm profitieren. Ich glaube nicht, dass ich mit einem heutigen Sonderpädagogik-Studium die eigentlich doch äußerst inklusive Kompetenz erlangt hätte, mit Kindern und Erwachsenen, mit Hochbegabten und Schwerbehinderten, mit Vorschülern und Abiturienten zu arbeiten.
Aber vielleicht besteht noch Hoffnung, dass die Studierenden die selbst auferlegten Scheuklappen unseres Faches als solche erkennen und sehen, dass die Sonderpädagogik sich vom Gängelband der political correctness losmachen kann und dabei an Profil gewinnt statt zu verlieren. Eine Nachricht von einem Studierenden, Herrn Moritz Roos, lässt mich das zumindest hoffen und ich möchte sie hier gerne zitieren – ich wünsche allen Studierenden den Mut zu so viel Urteilsfähigkeit!
Inklusion wird momentan “zum absoluten Fixpunkt erklärt, auf den man zuzusteuern habe. Dass in Beiträgen von Sätzen wie “Die Inklusion wird viel Geld kosten. Aber sie wird die Gesellschaft wunderbar verändern”, “[Inklusion] ist das Alpha und Omega in der Demokratie” oder “Inklusion ist eine Realvision” zu Sätzen wie “Inklusion bedeutet Wertschätzung” übergegangen wird, zeigt denke ich erstens die Unfähigkeit
der nüchternen Betrachtung dieses Themas in der Öffentlichkeit wie an der Uni (die ja dieses diffuse politische Projekt qua Amt zu entwerfen hat). Das finde ich sehr schade.
Zweitens sichern einem die Beispielsätze zu, dass man so argumentativ immer auf der Gewinnerseite ist – denn die Worte “Inklusion” und “Wertschätzung” in einem Satz zu verbinden, entsagt einem Kritiker des ersteren logisch auch die Bereitschaft zu zweiterem.
Dass Heribert Prantl, der Verfasser des Beitrags, dem diese Sätze entnommen sind, als Jurist und Publizist vermutlich nie mit behinderten Menschen länger Kontakt hatte oder mit ihnen gearbeitet hat, ist nach solch politischen und schweren Worten natürlich nicht mehr von Belang…” Moritz Roos, Berlin (Quelle der Zitate: Heribert Prantl, Vortrag vom 5. Juni 2014: “Für eine Demokratie ohne Barrieren – Inklusion als zweite deutsche Einheit”, in: “Blätter für deutsche und internationale Politik” 8/2014 S. 73ff)
Ja, mit Äußerungen zur Inklusion kann man sich momentan sehr billig als Gutmensch darstellen. Warten wir ab, ob die Sonderpädagogik als Fach sich damit auf Dauer zufrieden geben wird.